Mein Sozialpraktikum in der Odilienschule
Mannheim im November-keine Urlaubssituation. Soviel stand fest, als ich aus dem Bahnhof trat und zum trüben Himmel
über mir starrte. Der Wind wehte mir Abgase ins Gesicht, das Brummen des Stadtlärms war nicht zu überhören. Überall
Autos, Straßen und Menschen; doch was hatte ich erwartet? Reine Landluft? Wohl kaum, wenn man aus Leipzig anreiste.
Als ich auf dem Weg zu meiner Schwester über den Neckar fuhr, war meine miese Laune von fünf Stunden Zugfahrt jedoch
wie fortgeweht. In Leipzig liebte ich die vielen Grünanlagen und die Seen ringsherum,doch hier verschönerten zwei
Flüsse die Stadt. Das schien mir eine schöne Alternative und ich beschloss, dass Mannheim durch den Rhein und den Neckar
ein Ort war, an dem mir 3 Wochen Aufenthalt sehr akzeptabel schienen. Dies wurde nicht zuletzt von meinem Praktikum in
der Odilienschule bestätigt.
Der erste Tag in der 4. Klasse verging nicht ohne Aufregung und reges Interesse sowohl der Kinder mir gegenüber, als auch meinerseits.
Da war ein Leuchten in den Kinderaugen, ein nie zu verlöschen scheinendes Glühen von Lebensfreude und Erwartung in den Gesichtern, die
so unvoreingenommen und gegenwärtig einander ansahen, als man gemeinsam sang und rythmische Spiele im Kreis übte. Vertraut und doch
immer wieder neu begann der Schultag zuerst mit dem Morgenkreis, zu dem sich alle Klassen der Schule gemeinsam einfanden und so jeden
Tag zusammen begannen. Dieser Anklang war für mich ein sehr schönes Ereignis jeden Tag. Die Schule schien dadurch eine unzertrennliche
Gemeinschaft zu werden. Nicht jedes Kind schien dabei brav zu sein und lieb zu gucken und diese zeichnete auch einen großen Teil der
Arbeit aller Erwachsenen in diesem Kreise aus.
Zunächst nahm ich meinen Beobachtungsposten ein, nahm alles wahr und auf, sodass ich in den folgenden Tagen darauf zurückgreifen konnte.
Nach einigen Tagen konnte ich beherzt und nunmehr als Mitglied dieser Gemeinschaft tätig werden. Ich kam nach deren Ferien zur
beginnenden Rechenepoche. Mir machte es Freude, den Kindern beim Rechnen zu helfen, wobei ich selbst natürlich auch mein Kopfrechnen
schulen konnte. Doch nicht nur das Lehren des Rechnens wurde mir zuteil, vielmehr waren hier die richtig angewendeten Erziehungsmethoden
und -maßnahmengefragt, über die ich nur gering informiert war. Ich glaube doch, dass man sehr viel aus der Situation heraus lernen kann,
wenn man genau hinschaut und mit lernt.
Oft fiel es mir schwer von der einzelnen Persönlichkeit wegzukommen, um objektiv eine bestimmte Sache anzugehen. Schnell merkte ich, dass
man als Erwachsener (und zu diesem Zeitpunkt musste ich mich als solcher eingliedern) nicht als Spaßmacher und Lieblingslehrer tätig sein
und fungieren durfte. Die Autorität war für mich bisher nur andersherum zu erleben. Dass ich nun selbst eine autoritär wirkende Person sein
sollte, schien mir bis zum Schluss sehr fremd. Spätestens in der dritten Woche wurde mir sehr deutlich bewusst, wie notwendig diese
einzuhaltende Distance zwischen Kindern und Erwachsenen oft war. Auch war die ständige Vorbildfunktion sowohl neu, als auch recht anstrengend
für mich zu erleben. Doch all das konnte meine gute Laune nicht trüben, wenn ich die leuchtenden Kinderaugen sah, die den ersten, matschigen
Schneeflocken folgten, welche langsam rieselnd schmolzen, noch ehe diese die Wiese des Schulhofs überhaupt erreicht hatten. Für mich war Schnee
in der Stadt nur eine nasse Angelegenheit, der man mit einer heißen Schokolade im Bett aus dem Weg ging. Als ich jedoch die Kinder mit ihren
strahlenden Gesichtern sah, die mit geröteten Wangen ins Klassenzimmer stürmten und mit schnellen Blicken nach Zuhörern suchten, wurde mir
bewusst, dass das Glück in jedem noch so kleinen Moment zu finden war, den ich hier mit diesen Kindern erleben durfte.
Den ganzen Schultag begleitete ich die 4.KLasse und anstrengend war eigentlich auch keiner der anderen Tage mit ihnen. Gelegentlich außerschulische
Vorbereitungen beispielsweise für das anstehende Sankt-Martins-Fest, den großen Herbstbazar oder das Adventgärtlein nahmen den ein oder anderen
letzten Nerv von mir in Anspruch, doch war es das immer wert. Nicht zuletzt waren es die Kinder, denen es wir verdankten, jeden Stress und jede
Arbeit als etwas Wertvolles, etwas Schönes im Nachhinein zu betrachten. Vielleicht ist auch das die Grundlage dessen, was die Freude an der Arbeit
selbst ausmacht, damit folglich das Erlernte als Geschenk, statt als Pflicht angesehen werden kann.
Es waren sehr schöne drei Wochen. Und das Schönste war hier das Arbeiten für die Kinder und mit den Kindern. Unglaublich viele Erfahrungen waren
hier zu sammeln, mehrere Erlebnisse abzuspeichern und wieder andere zu durchdenken. Diese Schule und diese Kinder lassen mich noch heute über
viele Sachen nachdenken und philosophieren.
Für den Geist und für die Seele war dieses Praktikum ein großartiges Geschenk. Ein riesiges Dankeschön an alle Kinder der 4. Klasse der Odilienschule
Mannheim, an ihre Klassenlehrerin und Klassenhelferin, an das gesamte Kollegium dieser Schule und auch meiner eigenen Schule, der Freien
Waldorfschule Leipzig, danke ich herzlich für die Möglichkeit eines solchen Sozialpraktikums außerhalb Leipzigs.
Als ich schon im Zug nach Leipzig saß und trübsinnig aus dem quadratischen Fenster starre, dachte ich daran, dass ich mich wie eine Schneeflocke
zu fühlen schien. Wunderschön geformte, klare Kristalle säumten meine Gestalt. Einer der Kristalle bildete die Erinnerung an aller Kinder Gestalt
und Wesen, ein anderer meine Erlebnisse mit ihnen, der dritte hütete alle neuen Erkenntnisse und Ideen, der vierte bewahrte alle Geschenke dieser
Menschen, der fünfte schließlich war zur Abrufung aller anderen Kristalle für die Zukunft zuständig und der sechste und letzte Kristall wartet
auf ein Wiedersehen...
...endlich war die Zugfahrt vorüber und als ich diesmal aus dem Bahnhof trat, blinzelte ich verblüfft nach oben- zahlreichen Schneeflocken entgegen!
Leipzig, den 1. März
(Deborah Seifert, Schülerin der 11. Klasse/ Freie Waldorfschule Leipzig)